Der Konsum als Objekt und Medium der Kritik

Ad-Hoc-Gruppe beim Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie
in Bochum/Dortmund, 4.10.2012

Organisation: Jens Hälterlein (Potsdam) / Dominik Schrage (Dresden/Lüneburg)

Dominik Schrage (Dresden / Lüneburg): Kritischer Konsum zwischen Reflexivität
und Popularisierung
Lilian Leupold (Dresden): ›Polizeiliche Überwachung‹ des eigenen Konsumverhaltens. Konsumkritische Diskurse in oberen Mittelschichten in Brasilien
Jens Hälterlein (Potsdam): Von der Öko-Bewegung zum nachhaltigen Konsum
Thomas Lenz (Walferdange): Warum das Kaufhaus brennen musste. Konsumkritik um 1900 und 2000

Mit der Sammelbezeichnung „kritischer Konsum“ kann man die gegenwärtig vieldiskutierten Phänomene des „politischen“ oder „moralischen Konsums“ bezeichnen. Es handelt sich um Versuche, die Logik sozialer Bewegungen und ethische Erwägungen mittels „Boykott“, „Buycott“ oder einfach reflektiertem Einkaufsverhalten im Feld des Konsums zu etablieren, um gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Zumeist wird der Konsum hierbei als ein Medium politischer Meinungsbildung oder Interessensartikulation angesehen, und die aggregierte Konsumentenmacht als ein Mittel zur Durchsetzung sehr konkreter Ziele (Einwirken auf die Politik oder auf Strategien von Unternehmen) oder aber zur Verbreitung ethischer Einstellungen (Nachhaltigkeitsbewusstsein im weitesten Sinne).
Die Ad hoc-Gruppe vergleicht diese Praktiken mit den „klassischen“ Positionen der Konsumkritik welche zumeist aus der Warte des am konkreten Konsumgeschehen unbeteiligten Dritten argumentiert. Während diese sich in intellektuellen, geistes- und sozialwissenschaftlichen – und auch massenmedialen Debatten – artikuliert und auf die De-Legitimierung des Warenkonsums als solchem zielt, versteht sich kritischer Konsum als eine (intervenierende) Variante der Konsumpraxis selbst. Er will politische Ziele gerade durch Konsum erreichen – ohne ein Mindestmaß der Anerkennung des Konsums als legitimer Praxis ist kritischer Konsum deshalb undenkbar.
Was diese Unterscheidung indes verdeckt ist, dass Konsumkritik und kritischer Konsum in einem konstitutiven Verhältnis zueinander stehen. Kritischer Konsum ist auf der einen Seite eine mehr oder weniger direkte Umsetzung von Konsumkritik in Praxis. Nicht anders als Sparsamkeit oder Modebewusstsein ist kritischer Konsum ein Ausdruck von Reflexivität in der Praxis des Konsums (was nicht bedeutet, dass diese immer vollständig bewusst abläuft), und eine (wie auch immer geartete) Konsumkritik ist der Motor dieser Reflexivität. Konsumkritik ist die „Moral“ einer spezifischen Konsumpraxis. Auf der anderen Seite kann kritischer Konsum aber damit auch einer fundamentalen Konsumkritik praktische Wirksamkeit verschaffen, sie „popularisieren“. Versteht man den kritischen Konsum in der Linie dieses Arguments als eine auf massenkulturelle Verbreitung, auf Popularisierung angelegte Praxis, so kann eine solche praktische (und damit lebensstilrelevant werdende und sichtbare) Konsumkritik sogar eine transformative Wirkung auf die Gesellschaft haben – etwa indem Wertvorstellungen der alternativen Subkultur zu prägenden Merkmalen bürgerlicher Sozialmilieus werden. Insofern sind die kulturellen und sozialen Veränderungen seit den 1960er Jahren kaum angemessen ohne die Bezugnahme auf die Konsumkritik und Formen des kritischen Konsums zu verstehen. Dann allerdings stellt sich die Frage, wie Reflexivität und Popularität sich jeweils zueinander verhalten.
Ziel der Ad hoc-Gruppe ist es folglich nicht allein, das Verhältnis von Konsumkritik und kritischem Konsum in chronologischer Ab- und Nachfolge zu bestimmen, sondern als aufeinander bezogene, Konjunkturen unterliegende Aspekte des modernen Konsumgeschehens selbst zu betrachten. Es geht also um die Rolle, die die Kritik am Konsum beim Konsumieren selbst spielt. Von besonderem Interesse sind dabei Fälle, in denen auch die Widersprüche zwischen einer fundamentalen Kritik am Warenkonsum und der unhintergehbaren, alltäglichen Einbindung in ihn zur Sprache kommen.
Solche Widersprüchlichkeiten prägen, wie Dominik Schrage (Dresden/Lüneburg) in seinem Vortrag „Kritischer Konsum zwischen Reflexivität und Popularisierung“ darstellt, nicht nur – wie man aus zeitlichem Abstand deutlicher sieht – die ältere Konsumkritik vom Typ Adorno und Gehlen, sondern ebenso den antikapitalistischen Aktionismus der Jahre um 1970. Er hatte einerseits den Massenkonsum als ubiquitäre Vereinnahmung des Lebens durch den Kapitalismus angegriffen, sich kulturell aber wesentlich durch ein spezifisches Segment von Massen-Konsumgütern (Platten, Kleidung, Filme etc.) und durch qua Massenmedien global verbreitete Praktiken ausgezeichnet. Auch der gegenwärtigen, von Zielvorstellungen wie Nachhaltigkeit, Gesundheit und Fairness getragene kritische Konsum weist konstitutive Widersprüchlichkeiten auf: Das betrifft nicht nur die oft in der Praxis zutage tretenden Diskrepanzen zwischen diesen Zielvorstellungen (biologisch angebaut muss nicht ökologisch nachhaltiger sein, gesunde Lebensmittel und Kosmetika können unfair produziert und vertrieben werden). Dies betrifft auch die schon für die ältere Konsumkritik konstitutive, wenn auch nicht immer explizit werdenden Fragen, wie die gerade durch den Warenkonsum ermöglichten, massenhaften, aber aus der Warte der Kritik als „falsch“ erscheinenden Konsumentscheidungen zu erklären wären, und ggf. wie verändernd auf sie eingewirkt werden könne. Diese Fragen werden im aktuellen Nachhaltigkeitsdiskurs oft als durch Ethik oder mit pädagogischen Mitteln lösbar angesehen, sie unterschätzen aber, so Schrages Argument, die besonderen, diesen Lösungsvorschlägen entgegenstehenden Freiheitsgrade der modernen Konsumentenrolle.
In ihrem Vortrag “‘Polizeiliche Überwachung’ des eigenen Konsumverhaltens. Konsumkritische Diskurse in oberen Mittelschichten in Brasilien” stellt Lilian Leupold (Dresden) ihre vergleichenden Analysen des Stellenwerts von konsumkritischen Diskursen in den oberen und unteren Mittelschichten in Brasilien vor. Sie argumentiert auf der Grundlage von Leitfadeninterviews, die sie im Rahmen ihrer soziologischen Diplomarbeit in Brasilien durchgeführt hat. Ihre Analyse arbeitet heraus, welche Funktionalität konsumkritische Motive im Zusammenhang mit der sozialen Lage und sozialen Mobilität von Personen erhalten. Anhand der brasilianischen Situation kann Lilian Leupold sehr anschaulich zeigen, wie konsumkritische Motive in unterschiedlichen sozialen Lagen verschieden motiviert bzw. begründet sind, und sie bringt einen Fall in die Diskussion ein, der sich als Vergleichsfolie für die Entwicklung in Deutschland nutzen lässt.
Jens Hälterlein (Potsdam) rekonstruiert in seinem Vortrag „Von der Öko-Bewegung zum nachhaltigen Konsum“ den Weg von der ökologischen Kapitalismus- und Konsumkritik der 1970er und 1980er Jahre zu den gegenwärtig dominanten Formen des Kritischen Konsums (nachhaltiger, ethischer bzw. moralischer Konsum) und fragt nach den Verschiebungen, die sich innerhalb der Ziele der Kritik und ihrem Verhältnis gegenüber dem Konsum vollzogen haben. Dabei soll auch das Verhältnis dieser Formen Kritischen Konsums zu neoliberalen Regierungsprogrammen beleuchtet werden, die auf Eigenverantwortung und Eigeninitiative der Subjekte setzen und diese zu aktivieren versuchen.
Thomas Lenz (Walferdange – Luxemburg) schließlich erörtet in seinem Vortrag „Warum das Kaufhaus brennen musste. Konsumkritik um 1900 und 2000“ in historisch-vergleichender Perspektive den Zusammenhang von konkreter Praxis der Kritik und gesellschaftlicher Verfasstheit. An den Beispielen der Kritik am Warenhaus der Jahrhundertwende und der gegenwärtigen Kritik an den Discountern zeigt er, dass Konsumkritik immer auch Gesellschaftskritik war und ist. In beiden kommen populäre Ängste, moralische Vorbehalte und gängige Phantasien in Bezug auf gesellschaftliche Veränderungen und Entwicklungen zum Ausdruck.
In den unterschiedlichen Phänomenen und Zugangsweisen der Vorträge gewinnt das komplexe, zuweilen widersprüchliche Verhältnis von kritischem Konsum und Konsumkritik an Kontur. Dabei werden zugleich neue Sichtweisen auf das Thema Konsum erprobt und aktuelle Ansätze der Konsumsoziologie weiterentwickelt.